Eine génération précaire im Osten? Die Verunsicherung und Selbstdeutungen von Jugendlichen nach dem Systemumbruch

Eine génération précaire im Osten? Die Verunsicherung und Selbstdeutungen von Jugendlichen nach dem Systemumbruch

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung", Teilprojekt A 5 (Leitung: Prof. Dr. Lutz Niethammer) "Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Generationsumbruch"
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.12.2007 - 18.12.2007
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Von
Michael Busch, Universität Jena; Jan Jeskow, Universität Jena


Wird in den Medien die soziale Situation der heutigen Jugend diskutiert, so geben die Autoren den Jugendlichen gern das Etikett der „Prekären Generation“. Auch die Jugend selbst – wie die französische Praktikantenbewegung „génération précaire“ – versucht mit dieser Selbstzuschreibung auf ihre problematischen Existenzbedingungen zu verweisen und ihrem Empfinden einer sozialen Verunsicherung Ausdruck zu verleihen. Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Historiker fragten auf der interdisziplinären Tagung am 17. und 18. Dezember 2007 in Jena nach der Reichweite dieser Selbstzuschreibung: Bringt die fortschreitende Transformation der Arbeitswelt eine deutsche – oder auch europäische – Jugendgeneration hervor, deren Kollektivkonstruktion vornehmlich durch soziale Verunsicherung geprägt ist? Oder wirken sich die veränderten Arbeitsbedingungen eher strukturell aus, so dass sie mehr oder weniger alle Arbeitsgruppen der Erwerbsbevölkerung betreffen? Und inwieweit spielt in den Deutungen ostdeutscher und osteuropäischer Jugendlicher die Umbruchserfahrung nach 1989/90 eine Rolle?

In den Vorträgen, Diskussionen und Kommentaren fiel die Antwort auf die Frage nach einer „Prekären Generation“ skeptisch bis verneinend aus. Grundsätzlich bestätigten quantitative Untersuchungen erhöhte Herausforderungen für Jugendliche beim Übergang vom Bildungs- ins Erwerbsleben. Diese Lebensphase verlängere sich weiter; sie sei geprägt von Umwegen, Warteschleifen, zeitlich begrenzten Projekten und Zeiträumen der Arbeitslosigkeit. In ihrer Grundtendenz scheint die sich global entwickelnde Wirtschaft somit die Jugendlichen in ganz Europa vor ähnliche Problemkonstellationen zu stellen. Versteht man den Begriff einer „Prekären Generation“ jedoch als intersubjektiven Deutungszusammenhang, der die Erfahrung sozioökonomischer Verunsicherung in die Konstruktion eines kollektiven „Wir“ münden lässt, so scheint der Generationenbegriff zu weit zu greifen. Zum einen wirken sich die Folgen der Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes regional-, schicht- und geschlechtsspezifisch differenziert aus und es existieren verschiedene Unterstützungs- und Förderungsstrategien auf nationaler Ebene. Zum anderen aber – wie an Vorträgen über die Deutungen von Jugendlichen Ostdeutschlands und Osteuropas erkennbar wurde – werden die Problemlagen in einem durch die historischen Entwicklungen und die Vorerfahrungen der Eltern- und Großelterngenerationen geprägten Erfahrungsraum durchlebt und aus diesem heraus gedeutet.

Dass der Einstieg Jugendlicher in den Arbeitsmarkt heute mehr denn je von berechtigten Ängsten und Verunsicherungen geprägt wird, darauf wiesen mehrere Vorträge der Tagung deutlich hin. Die Selbst- und Fremdzuschreibung als nationale oder gar europäische Generation kann jedoch kaum mehr als ein mediengerechtes Label darstellen, dass sich für jugendliche Interessengruppen aus strategischen, für die Medien selbst aus öffentlichkeitswirksamen Gründen anempfiehlt.

STEFFEN SCHMIDT (Jena) betrachtete in seinem Vortrag die Begrifflichkeit „génération précaire“ als eine Selbstzuschreibung aus der Praxis. Er wies hierbei auf den pragmatischen Umgang der Praktikantenbewegung mit dem von Bourdieu umfassend gedeuteten Begriff der Prekarität hin. Neu sei daran, dass zunehmend auch die Mittelschichten betroffen seien. Der Verdienst der Praktikantenbewegung bestehe in der allgemeinen Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die zunehmende existenzielle Verunsicherung, was ihr nicht zuletzt auch die Unterstützung der Eltern und Lehrer eingebracht habe. Durch konkurrierende Begrifflichkeiten in der Öffentlichkeit – wie in Deutschland die „Generation Praktikum“ – werde jedoch der Generationenbegriff am Ende selbst prekär.

In ihrem Referat gab FRAUKE AUSTERMANN (London) Einblicke in die Entstehungsgeschichte, die aktuellen Forderungen und die aktive Praxis des Protests der französischen Praktikantenbewegung. Unter den Tagungsteilnehmern kam es danach zu einer kontroversen Diskussion über die Frage, inwieweit eine Verknüpfung der Begriffe „Prekarität“ und „Generation“ zulässig sei. Mehrheitlich waren die Diskutanten der Auffassung, der propagierte Generationenanspruch könne nicht vertreten werden. Demnach seien alle Altersgruppen von der Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Zu untersuchen seien die prekären Unterschiede zwischen einzelnen Berufsgruppen und Bildungsschichten (Bernd Weisbrod, Ina Merkel). Bei der Praktikantenbewegung „génération précaire“ handle es sich hingegen um ein „one-issue-movement“ (Reinhold Sackmann). Es deuteten sich jedoch zwei Gründe an, warum der Generationenanspruch aufrecht erhalten würde (Lutz Niethammer): Zum einen sei der Begriff hochgradig medienwirksam und sichere eine hohe Resonanz. Zum anderen jedoch verwendeten die französischen Aktivisten den Begriff, um nicht als „think-all-purpose-movement“ segmentiert zu werden.

MANUELA DU BOIS-REYMOND (Leiden) stellte in ihrem Vortrag aktuelle vergleichende europäische Regionalstudien der Jugendforschung mit folgenden Befunden vor: 1.) Es existiert eine intergenerationelle Solidarität mit verschiedenen Ausprägungen und Intensitäten. 2.) Die Prekarisierung von Übergängen nimmt zu und damit auch die Möglichkeit intergenerationeller Konflikte. 3.) Der Staat zieht sich zunehmend aus der Verantwortung zurück und überlässt die Ausbildung den Jugendlichen bzw. der Familie. 4.) Aus kulturgeschichtlicher Perspektive findet ein Übergang vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt statt. Du Bois-Reymond problematisierte in ihrem Referat den Generationenbegriff in mehrfacher Hinsicht und sprach sich für ein Konzept struktureller Individualisierung aus, in dem von einer Spannung zwischen subjektiven biographischen Bedürfnissen und strukturellen Rahmenbedingungen ausgegangen werde.

Quantitative Analysen zu Ost- und Westdeutschland sowie zu Polen stellten KATARZYNA KOPYCKA und REINHOLD SACKMANN (Halle-Wittenberg) in ihrem Referat vor. Hierzu analysierten sie Generationenverhältnisse mit einem arbeitsökonomischen Konzept, welches zwischen „insidern“, „outsidern“ und „entrance“ unterschied. Für die Gruppe der Berufseinsteiger entwarfen sie auf der Grundlage eines flexibilisierten Arbeitsmarktes verschiedene Entwicklungsszenarien. In der Analyse stellten sie im zeitlichen Verlauf einen Zusammenhang zwischen Prekarisierungsgrad und Alter in Ost- und Westdeutschland fest, jedoch auf unterschiedlichem Niveau. Der Einfluss von Geschlecht und Bildungsabschluss auf die Prekarität sei in den einzelnen Untersuchungsländern unterschiedlich.

HERWIG REITER (Bremen) präsentierte seine Forschungsergebnisse aus problemzentrierten Interviews mit litauischen Jugendlichen. Zur „Figur des Arbeitslosen“ rekonstruierte er in einem Fallbeispiel metaphorisch zwei Dialoge des intergenerationellen Transfers von Wissen und Stereotypen. Über den „Dialog mit der Mutter“ würden die Arbeitsanforderungen in der westlichen Gesellschaft vermittelt. Der „Dialog mit der Großmutter“ spiegle die Erfahrungen über die Situation mit der Vergangenheit, das heißt mit den Erfahrungen der Sowjetunion und der Umbruchssituation wieder. Der Westen werde in den Dialogen als „überlebensgroß“ dargestellt, während die Vergangenheit nur Stereotype biete, die nicht realitätstauglich seien. Dennoch seien die Vorhersagen der Sozialforschung nicht eingetreten, nach denen die postkommunistische Jugendgeneration die Solidaritätsgefühle sehr schnell ablegen würde. Die Jugendlichen führten eine höhere Sensibilität für Gerechtigkeit weiter.

WILFRIED SCHUBARTH (Potsdam) stellte in seinem Referat Regionalstudien zu Jugendlichen, Studenten und Jugendexperten in Ostdeutschland vor. Die Ergebnisse verdeutlichten, wie stark die Diskrepanzen im Ost-West-Vergleich zwischen den subjektiven und objektiven Lebenslagen von Jugendlichen seien. Die Realität werde eklatant unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet. Insbesondere die Befunde bei Befragungen der Jugendexperten belegten, wie stark die eigene Biographie die Einschätzung der Ost-West-Unterschiede auch in der Forschung beeinflusse. In der Diskussion führte Schubarth weiter aus, dass aus Sicht der empirischen Sozialforschung nicht von der Jugend auszugehen sei, sondern von einer Mehrzahl von Jugenden.

Heutige Jugendliche erhielten oft den Vorwurf, zu pragmatisch, wenig aufbegehrend und ohne Zukunftsvision zu sein, legte TANJA BÜRGEL (Jena) in ihrem Vortrag dar. Besonders Vertreter der „Achtundsechziger“ mäßen die gegenwärtige Jugend am Idealtypus ihrer eigenen – politischen – Generation. Mit Bourdieu sei jedoch festzuhalten, dass gerade die zunehmende Prekarisierung der gegenwärtigen Lebensverhältnisse eine rationale Vorwegnahme der Zukunft verhindere. Ohne eine solche Fähigkeit fehle jedoch auch der Glaube an eine bessere Zukunft, der eine Auflehnung gegen eine drückende Gegenwart überhaupt erst ermögliche. Unter diesen Bedingungen sei ein neues – politisch entladenes – Generationenverständnis notwendiger, als die Entrüstung über eine Jugend, deren Protestkultur offenbar vom bisher Gewohnten abwiche. Die anschließende Diskussion wies auf die veränderte Protestkultur der Jugendlichen hin, wie etwaige Rückzüge Einzelner in andere Lebensarenen (Manuela du Bois-Reymond) oder die Hinwendung zu international öffentlichkeitswirksamen „one-purpose-movements“ (Reinhold Sackmann).

MARTIN GLOGER (Göttingen/ Kassel) unterzog in seinem Referat das Label einer westdeutschen „89er-Generation“ einer kritischen Betrachtung. In den Selbstthematisierungen der 1968 bis 1971 Geborenen spielten zwei Argumentationsweisen eine Rolle: Die eigene Zeitzeugenschaft des Umbruchs 1989/90 sowie die Sichtweise von sich selbst als Wohlfahrtsstaatsverlierer. Doch bestehe zwischen diesen beiden Argumentationen eine disjunktive Logik; positive Wendeerlebnisse schlössen sich mit der Empfindung von sich als wohlfahrtsstaatliche Verlierer aus. Die 1968 Geborenen betonten eher die Wende als persönliches Erlebnis und die Jüngeren die Verschlechterung ihrer Lebenschancen. In der Diskussion hob Bernd Weisbrod die mediale Konstruktion des „Wohlfahrtsstaatsverlierers“ hervor; es handle sich hierbei nicht um eine wirkliche Generationserfahrung.

Anhand lebensgeschichtlicher Interviews zeichneten ANTJE LEHMANN und RÜDIGER STUTZ (Jena) in ihrem Vortrag ein Generationenportrait der in den Jahren 1973 bis 1975 geborenen Ostdeutschen. Ähnlich der skeptischen Generation Schelskys stünden diese „abgeklärten Skeptiker“ den Ideologien der Eltern- und Großelterngeneration misstrauisch gegenüber, sie beargwöhnten außerdem das politisierte Appellverhalten früherer Protestgenerationen. Vielmehr zeigten sie klare Aufbruchsbestrebungen. Sie seien orientiert an sozialem Aufstieg und beruflicher Karriere, nähmen die ihnen gebotenen Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung bewusst wahr. In den fehlenden Lebensvisionen der Jugendlichen sei jedoch das Anzeichen einer „postsozialistischen Ordnungssuche“ (Ahbe/Gries) zu erblicken – offenbarten sich umbruchsbedingte Verlustempfindungen. Diese wiederum führten zu einer Überdehnung der Adoleszenzphase und zu längeren Suchbewegungen.

INA MERKEL (Marburg) stellte in ihrem Kommentar die Frage, wofür der Begriff der „Generation“ im Zusammenhang mit „Prekarität“ notwendig sei und was er leisten könne. Aus ihrer Sicht seien gerade im Kontext des Generationenbegriffs eher Phänomene wie „Label-linking“, Etikettierungsprozesse und allgemeine Konjunkturen in den Medien zu untersuchen. Erst hier kläre sich die mediale wie auch politische Bedeutsamkeit des Begriffs. Dahinter stehe die Frage, wer den Generationenbegriff zu welchem Zweck nutze. Welche Bedeutung habe es, dass in der Öffentlichkeit permanent mit dem Generationenbegriff gelabelt werde? Kritisch warf Ina Merkel zugleich die Frage auf, ob sich der Generationenbegriff für Gegenwartsanalysen überhaupt eigne. Läge die Wende 1989 weit genug zurück, dass die Möglichkeit einer Historisierung bereits bestehe? Als analytischer Begriff sei „Generation“ in diesem Fall nicht fruchtbar. Die Referate hätten diese kritischen Punkte zwar tangiert, doch sei das Problem nicht explizit zur Sprache gebracht worden.

BERND WEISBROD (Göttingen) knüpfte in seinem Kommentar an diese Betrachtungsweise an. Im Hinblick auf Prekarität sei der Forschungsstand erst auf dem Niveau der Problematisierung angelangt. Das Phänomen sei in der gegenwärtigen Arbeitsmarktforschung historisch einzigartig, jedoch verdeutlichten sinkende Geburtenraten und damit einhergehender Arbeitskräftemangel, dass Prekarität nicht zum ewig etablierten Modell gehören müsse. Bezüglich des Generationenaspekts sei auch für Weisbrod die entscheidende Frage, wer in diesem Zusammenhang unter welchen Bedingungen über Generationen rede. Denn die Generationenperspektive stifte Identität auf Kosten anderer Identitätsangebote. So verleite deren Betonung dazu, Grenzen hervorzuheben, die sich beispielsweise von Differenzierungen durch soziale Ungleichheit unterschieden. Es müsse daher sehr kritisch hinterfragt werden, welche Verdrängungsfunktion die Generationenrede habe. Als nachträglich gestiftetes Gemeinschaftserlebnis sei das individuelle Beitreten zu einer „Generation“ bisher auch immer Anzeichen einer Identitätssehnsucht gewesen. Doch seien heute neue Subjektivitätsvorstellungen und Subjektivitätsregime entstanden, bei denen von der bisherige Form der Identitätssehnsucht nicht mehr ausgegangen werden könne. Selbst bei gemeinsamer ökonomischer Lagerung oder anderer Gemeinsamkeiten habe die Generationenrede heute schlechte Chancen – ein individuelles Wollen und Handeln sei nicht unbedingt mit der Sehnsucht nach einem Gruppenerlebnis verbunden.

Anhand eines exemplarischen Familieninterviews verdeutlichte UTA KARSTEIN (Leipzig), dass übergeordnete Zuschreibungen – „Ossi“ und „Wessi“ als einer unter mehreren vertretenen Stereotypen – eine vermittelnde Funktion zwischen Familiengenerationen haben. Dabei seien es vornehmlich Jugendliche, die mit der Übernahme dieser Leitdifferenz unterschiedliche generationelle Erfahrungshorizonte zwischen Eltern und Kindern überblendeten. Die Identität mit einer übergeordneten Eigengruppe werde von den jüngsten Familienmitgliedern als Teil der Familienidentität und der eigenen Biographie konstruiert. Es spiele dabei keine Rolle, wodurch sich die Stereotypen auszeichneten; wichtig sei ein positiv besetzter Referenzrahmen, in dem die eigenen mit den differierenden Erfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration verbunden werden könnten. Nach Karstein handelt es sich um eine kommunikative Strategie, die mit der situativen Konstruktion einer übergeordneten Differenz die familiale Einheit als generationenübergreifende Solidargemeinschaft gewährleiste.

Über die Auswertung von Interviews mit Ost- und Westdeutschen unterschiedlicher Alterskohorten suchten HARTMUT ROSA (Jena) und MICHAEL CORSTEN (Jena) die Frage zu beantworten, ob es sich bei der zunehmenden Prekarisierung des Übergangs vom Bildungs- ins Erwerbssystem allein um eine Veränderung der Chancenstruktur handelt oder ob die Folgen der Verunsicherung durch das Wegbrechen des institutionellen Handlungsrahmens im Osten Auswirkungen auf die individuelle Gestaltung der Biographien und deren Selbstreflexion haben. Für die Kohorten der um 1970 und um 1975 Geborenen ließen sich herausragende Unterschiede feststellen. Die Gestaltung ostdeutscher Biographien und deren individuelle Deutung erschienen nach 1989/90 hauptsächlich vom Verlust des institutionellen Handlungsrahmens der Vergangenheit geprägt. Es überwögen Krisenbewältigungsmuster und Kompensationsstrategien. Westdeutschen hingegen gelänge es, die Folgen der Transformation des Arbeitsmarktes als Herausforderung zu begreifen und durchaus positiv zu konnotieren. Glichen sich zunehmend auch die sozioökonomischen Auswirkungen an, so bliebe die Differenz zwischen „prekär-Ost“ und „prekär-West“ in der Deutung erhalten.

Ausgehend von der Voraussetzung, dass gemeinsame symbolische Formationen die Grundlage für kulturelle Identität bilden, begaben sich ELIZE BISANZ (Lüneburg) und MARLENE HEIDEL (Lüneburg) in ihrem Vortrag auf die Suche nach einer neuen kulturellen Identität der ostdeutschen Jugendgeneration. Es zeige sich, dass sowohl die kindlichen Erinnerungen als auch die gegenwärtige Erfahrungswelt ost- wie westdeutscher Jugendlicher durch gemeinsame symbolische Bezüge geprägt seien. Unterschiede bestünden allerdings in der Selbstdefinition der Jugendlichen. Ostdeutsche hätten oft Schwierigkeiten, sich selbst zu definieren oder griffen in ihren Selbstzuschreibungen häufiger auf allgemeine Kategorien wie Religion oder Geschlecht zurück. In dieser Situation der jungen Ostdeutschen, einerseits geprägt durch „gesamtdeutsche“ Symbole der Erfahrungswelt, andererseits auf der Suche nach neuen Definitionsangeboten, bilde sich eine neue kulturelle Identität aus, die bis hin zur Generierung einer neuen literarischen Sprache reiche. Bei gleicher symbolischer Erfahrung bliebe eine Differenz auf kommunikativer Ebene.

ELENA V. MÜLLER (Berlin) stellte mit der Betrachtung zweier russischer Bestseller die literarische Verarbeitung der Chancen und Orientierungsprobleme von zwei aufeinander folgenden Jugendgenerationen Russlands vor. Die noch in der Sowjetunion sozialisierte Jugend – wie in Viktor Pelewins Buch „Generation P“ – sei ökonomisch erfolgreich gewesen, obwohl sie die Umbruchserfahrung nicht verarbeiten konnte. Die nachfolgende Generation – portraitiert in Sergej Minajews Buch „Duchless“ (geistlos) – sei wegen dem fehlenden ökonomischen Erfolg und einer grundsätzlichen Orientierungslosigkeit für sich selbst und ihre Gesellschaft in einer weitaus schwierigeren Situation. Laut Müller lasse sich zeigen, dass die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse in Russland beschleunigter abliefen als in Westeuropa. Während die soziale Sicherheit der westeuropäischen Jugendlichen nur langsam in Frage gestellt würde, hätten die Jugendlichen Russlands mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Zusammenbruch ihrer „heilen Welt“ bereits erfahren.

Ergebnisse der sächsischen Längsschnittstudie (befragt wurden Jugendliche aus Chemnitz und Leipzig erstmals 1987, bisher letzte Befragungswelle 2007) standen im Mittelpunkt des Vortrages von HENDRIK BERTH (Dresden). Die Studie zeige, so Berth, dass die Identitätsbildung der jährlich befragten Panelmitglieder vom DDR- zum Bundesbürger keineswegs abgeschlossen sei. Vielmehr habe man es mit einer Doppelidentität zu tun. Die DDR wolle man zwar nicht zurück haben, die Befragten vermissten jedoch ein soziales Gerechtigkeits- und Sicherheitsempfinden in der gegenwärtigen Gesellschaft. Frauen stünden der gesamten Entwicklung wesentlich kritischer gegenüber. Sie hätten die Folgen des Umbruchs 1989/90 stärker zu spüren bekommen; im Falle von Arbeitslosigkeit seien sie in der Regel länger arbeitslos als Männer. Insgesamt, so fasste Berth zusammen, stünden die Befragten den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen als „kritische Befürworter“ gegenüber.

KARL AUGUST CHASSÉ (Jena) wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die klassische Konzeption des Jugendbegriffs – Jugend als Übergang und Moratorium von der Kindheit ins Erwachsenenleben – durch die Transformation der Arbeitsgesellschaft an Tragweite einbüße. Vielmehr sei eine Zweiteilung der Jugend zu beobachten. In der ersten, institutionell durch die Schule bestimmten, Jugendphase, spiele sich nun ein Großteil der adoleszenten Ablöseprozesse ab. Die zweite Phase, die sich bis ins dritte Lebensjahrzehnt verlängert habe, sei geprägt durch die Herausforderung des Übergangs vom Bildungssystem ins Berufsleben. Arbeitslosigkeit und Umwege würden für die Mehrheit der Jugendlichen zur Normalität; Armut, Exklusion und Prekarität prägten die zweite Jugendphase. Chassé betonte jedoch, dass sich die jeweilige Betroffenheit nach Geschlecht, Schichtzugehörigkeit und Region unterschiedlich abstufe. Für Ostdeutschland sei eine milieuspezifische Polarisierung der Jugend erkennbar – der strukturell erzwungene Wegzug gut qualifizierter Arbeitskräfte zu Gunsten adäquater Arbeitsverhältnisse und das strukturell erzwungene Bleiben bildungsfernerer Schichten.

PETER F. N. HÖRZ (Wiesbaden) vertrat in seinem Vortrag die These, junge Ostdeutsche seien als Avantgarde einer neuen „Verfleissigung“ (Schender) anzusehen. Interviews mit Jugendlichen, Pendlern und Angestellten in Personalabteilungen zeigten: Ein Teil der ostdeutschen Jugend sei extrem leistungsbereit, bildungswillig, ginge auch geringer qualifizierte Arbeitsverhältnisse ein und lege weniger Wert auf private Selbstverwirklichung. Anders als ihre Altersgenossen im Westen schienen sie sich somit dem prekarisierten Arbeitsmarkt als ideale Humanressource zu empfehlen. Zur Begründung verwies Hörz auf die Prägung der Menschen im Osten seit 1945. Arbeit sei nicht nur als grundsätzliche Notwendigkeit propagiert, sondern zugleich durch die Möglichkeit des sozialen Austauschs, kommunikativ wie sachlich, privat aufgewertet worden. Über die gemeinsam geteilte Umbruchs- und Nachwendeerfahrungen der noch in der DDR geprägten Elterngeneration und ihrer Kinder sei das generationenübergreifende Denken über Arbeit in die neue Bundesrepublik übernommen worden.

In ihrem Kommentar verknüpfte ANNA RITTWEGER (Berlin) das Tagungsthema nochmals mit einem skizzierten Überblick über ihren eigenen Erfahrungshorizont und den ihrer Altersgenossen. Selbst aufgewachsen in der DDR, bemerke sie, wie die vergangenheitsbedingte Orientierungslosigkeit durch die Prekarisierung zunehmend von einer ökonomischen Existenzbedrohung begleitet werde und die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft verstärke. In Osteuropa, so zeigten Rittwegers Erfahrungen mit osteuropäischen Jugendlichen, habe die Verunsicherung der 1990er-Jahre zu einer verstärkten Suche nach Sicherheit geführt. Nach wie vor strebe man einen nahtlosen Übergang ins Erwerbsleben an und rechne mit einer frühen Familienplanung. Die Ablehnung des westlichen Wertesystems verweise stark auf eine nationale Selbstidentifizierung. Diese von westeuropäischen Mustern durchaus unterscheidbaren Reaktionen ließen es notwendig erscheinen, weitere Untersuchungen auf einen gesamteuropäischen Kontext zu beziehen.

JÜRGEN REULECKE (Gießen) verband sein Fazit über die Tagung mit verschiedenen Anregungen. Sowohl bei „Prekarität“ als auch bei „Generation“ handele es sich um diffuse, höchst umstrittene Begriffe, die in ihrer Verwendung präzise definiert werden müssten. Ins Zentrum seiner kritischen Bemerkungen stellte Reulecke den Generationenbegriff. Zum einen irritiere ihn, dass der Begriff noch immer hauptsächlich über die Gedankengänge Karl Mannheims hergeleitet würde. Das große bestehende Diskursspektrum, das für Reulecke mehrere inspirierende Konzepte enthalte, würde in der Diskussion kaum betrachtet. Zum anderen regte er eine differenziertere Betrachtungsweise an. Erstens – und mit Blick auf Reinhart Koselleck – stünde der eigene Zeitkontext, die Generationalität, immer in Abhängigkeitsverhältnissen zu den Kontexten vergangener Geschlechter, der Generativität. Zweitens bestünden drei Heimaten, in denen ein Individuum verortet sei: die eigene Generationalität, ob reflektiert oder nicht – die Zeitheimat; die sozialen Kontexte, in denen ein Individuum hineingeboren ist – die Milieuheimat; die Identitätsmuster, die sich über die Landschaft geprägt haben, in der Individuen aufgewachsen sind, also auch Unterschiede zwischen Stadt und Land – im weitesten Sinne die regionale Heimat. Generationsentwürfe, die allein auf den synchronen Zeitzusammenhang der Individuen – auf die Zeitheimat – verwiesen, griffen deshalb zu kurz. Vieles sei in seiner Spezifität auf der Tagung deutlich geworden, doch hätten die skizzierten Zusammenhänge näher ausgeleuchtet werden können.

Konferenzübersicht:

Eröffnung: Lutz NIETHAMMER (Jena)

I: génération précaire – Ambivalenzen und Reichweite einer europäischen Selbstdeutung
Steffen SCHMIDT (Jena): génération précaire – Anmerkungen über den Wandel von Selbstdeutungen
Frauke AUSTERMANN (London): Von Prekariat, weißen Masken und Toilettenreinigern – Die französische Praktikantenbewegung génération précaire
Manuela DU BOIS-REYMOND (Leiden): Intergenerationelle Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern beim Übergang auf den Arbeitsmarkt in Europa
Katarzyna KOPYCKA; Reinhold SACKMANN (Halle-Wittenberg): Ambivalente Generationenverhältnisse hinter der génération précaire. Ein deutsch-polnischer Vergleich
Herwig REITER (Bremen): Arbeitslosigkeit und Desolidarisierung nach dem Systemumbruch – Eine Exploration der Perspektiven Jugendlicher im post-sowjetischen Litauen

II: Jugendgenerationen in Ost und West – Interaktion und historische Vorerfahrungen
Wilfried SCHUBARTH (Potsdam): Generation Ost im Westen angekommen? Analysen zur Lebenslage und zur regionalen Mobilität ostdeutscher Jugendlicher
Tanja BÜRGEL (Jena): Zum Generationswechsel in ostdeutschen Bildungsinstitutionen
Martin GLOGER (Kassel): Die (westdeutsche) Jugendgeneration der 90er Jahre zwischen welthistorischer Zäsur und Krise des Wohlfahrtsstaates
Antje LEHMANN; Rüdiger STUTZ (Jena): "Abgeklärte" Skeptiker: Zum Erfahrungsabgleich und Selbstverständnis der 90er-Jahre-Jugend in Ostdeutschland

Zusammenfassende Kommentare des ersten Tages
Ina MERKEL (Marburg)
Bernd WEISBROD (Göttingen)

Uta KARSTEIN (Leipzig): Schwieriges Erbe. Selbstdeutungen junger Ostdeutscher zwischen Familiensolidarität und Generationendifferenz
Michael CORSTEN/ Hartmut ROSA (Jena): „prekär-ost/prekär-west“ – eine verschwindende Differenz?

III: Werte, Normen, Orientierungen – Selbst- und Fremddeutungen unter prekären Lebensbedingungen
Elize BISANZ/Marlene HEIDEL (Lüneburg): Symbolische Formationen der pOst-Westlichen Generation in Deutschland und ihre Bedeutung für die Identitätsbildung im heutigen Europa
Elena V. MÜLLER (Berlin): Die literarische Verarbeitung der gesellschaftlichen Umbrüche -
russische Generationenromane nach 1989
Hendrik BERTH (Dresden): Erfahrungen ostdeutscher Jugendlicher auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Ergebnisse aus 20 Jahren Sächsische Längsschnittstudie
Karl August CHASSÉ(Jena): Lebensperspektiven junger Erwachsener in Ostdeutschland – zwischen Prekarität und Abwanderung
Peter F. N. HÖRZ (Wiesbaden): "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt" – Junge Ostdeutsche als Avantgarde der "neuen Verfleissigung"

Zusammenfassende Kommentare des zweiten Tages: Anna RITTWEGER (Berlin); Jürgen REULECKE (Gießen)


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